Das stärkste der Gefühle          

 

 

 

Walter Zieglgänsberger ist Deutschlands bekanntester Schmerzforscher. Im Gespräch mit Wissenschaftsautor Stefan Klein erklärt er, wie wir die Signale unseres Körpers besser verstehen können

 

Stefan Klein: Professor Zieglgänsberger, wie lange befassen Sie sich schon mit Schmerzen?

 

Walter Zieglgänsberger: Mehr als dreißig Jahre. Ich habe als ganz junger Wissenschaftler mit Nervenzellen aus dem Rückenmark experimentiert. Dabei entdeckten wir, dass man diese Zellen zum Beispiel mit etwas Glutamat dazu bringen kann, Schmerzsignale zu verstärken. Damals wollte das keiner glauben. Alle dachten, Schmerz sei nichts weiter als Nachricht von einer Verletzung, und je schlimmer die Verletzung, umso größer der Schmerz. Was ich erzählte, förderte nicht unbedingt meine Karriere. Namhafte Wissenschaftler schimpften, diese jungen Kerle spritzen da mit Suppenwürze im Gehirn rum, was soll das.

 

Klein: Sie haben einem Dogma widersprochen. Vor mehr als 350 Jahren hat Descartes, der französische Philosoph, den Schmerz mit dem Glockenläuten in einer Kirche verglichen. Wenn jemand unten am Seil zieht, bimmelt es oben im Turm. So sehen das wohl die meisten Menschen noch immer. In einem wenigstens gefällt mir dieses Bild: Descartes begreift Schmerz als einen Vorgang in unserem Körper – und nicht etwa als Strafe für Sünden.

 

Zieglgänsberger: Das kann man schon als Fortschritt sehen. Unrecht hat Descartes trotzdem: Schmerz ist nicht einfach ein Reflex. Zum Beispiel kommt es sehr auf den Zusammenhang an, in dem Sie den Schmerz erleben. Um die Schmerzschwelle zu messen, legen wir den Versuchspersonen ein kleines Metallstück auf die Haut und heizen es auf. Wenn ich das selbst machte, klagten die Leute später, als wenn meine Mitarbeiter es taten. Die bloße Anwesenheit eines Professors hat schmerzstillende Wirkung.

 

Klein: Vielleicht trauen sich die Leute in Ihrer Gegenwart einfach weniger zu jammern.

 

Zieglgänsberger: Nein. Sie empfinden tatsächlich weniger Schmerzen, wie sich an ihrer Hirnaktivität messen lässt. Das alles können Sie mit Descartes nicht erklären.

 

Klein: Beeindruckend fand ich die Versuche Ihrer Heidelberger Kollegin Herta Flor an Menschen mit chronischen Rückenschmerzen. Viele von ihnen waren mit einfühlsamen Partnern zusammen. Andere hatten Lebensgefährten, die von fremdem Leid nichts hören wollten. Aber letztere Patienten waren besser dran: Allein Zuspruch und Aufmerksamkeit steigern, wie sich zeigte, den Schmerz.

 

Zieglgänsberger: Das System ist eben enorm anpassungsfähig – hier reagiert es auf einen wohlmeinenden Lebensgefährten. Wir mussten da radikal umdenken. Noch vor wenigen Jahren glaubte man sich sicher zu sein, dass im Kopf alles fest und für immer verdrahtet ist. Heute wissen wir, dass sich auch ein erwachsenes Gehirn ständig umformt. Für uns Hirnforscher ist dies eine wahnsinnig aufregende Zeit – als wären wir gerade dabei, zu begreifen, dass die Erde keine Scheibe ist. Übrigens ahnen wir jetzt auch, welch wichtige Rolle Glutamat spielt, das sich der Körper selbst herstellt: Unter seiner Wirkung können sich die Neuronen leichter anpassen.

 

Klein: Gibt es auch angeborene Unterschiede darin, wie intensiv wir Schmerzen empfinden?

 

Zieglgänsberger: Ja. Schmerzempfindlichkeit vererbt sich. Und es gibt Menschen, die durch ihre genetische Ausstattung völlig unempfindlich gegen Schmerzen sind. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle. Die meisten Frauen sind empfindlicher als Männer. Das hat mit dem weiblichen Nervensystem zu tun. Im Vorteil wiederum sind rothaarige Frauen. Sie haben einen Gendefekt, der sie besonders gut auf bestimmte Opioide ansprechen lässt…

 

Klein: ... das sind die schmerzstillenden und berauschenden Wirkstoffe des Opiums. Auch die erzeugt der Körper sich selbst. Jeder hat sozusagen sein privates Drogenlabor in seinem Gehirn.

 

Zieglgänsberger: Nun ja, zunächst dienen diese Opioide dazu, auf natürliche Weise den Schmerz zu bekämpfen. Ohne dieses System wäre ein verwundetes Tier, hinter dem ein Räuber her ist, verloren. Auch dass verletzte Fußballer weiterspielen können, verdanken sie den Opioiden. Es sind die stärksten Schmerzmittel, die es gibt.

 

Klein: Erstaunlicherweise genügt die Kraft der Vorstellung, um Opioide freizusetzen. Bekommen Schmerzpatienten ein Scheinmedikament, an das sie aber fest glauben, schütten ihre Gehirne Opioide aus – und die Leute fühlen sich besser.

 

Zieglgänsberger: Ganz genau. Diesen Placeboeffekt können Sie ebenfalls an der Hirnaktivität nachweisen. Ob das Schmerzmittel von außen oder von innen kommt, ist letztlich egal. Sie können das Gehirn mit Techniken wie Meditation und Yoga dazu bringen, seine eigenen Mittel zu verwenden. Fakire setzen sich auf Nagelbretter, ohne vorher Pillen einzuwerfen.

 

Klein: Wie entsteht die Schmerzempfindung eigentlich?

 

Zieglgänsberger: Fast überall im Körper gibt es Sensoren, die Nozizeptoren, die auf Hitze, Druck oder auch chemische Reize ansprechen. Wenn Sie sich verletzen, geben die Nozizeptoren ein Signal an das Rückenmark. Dort geschieht etwas ganz Wichtiges: Das Schmerzsignal bekommt Vorrang gegenüber allen anderen Nachrichten aus Ihrem Körper. Außerdem wird die Information aufgeteilt. Ein Kanal führt in Bereiche des Großhirns, welche die Verletzung lokalisieren. Andere Impulse gehen in tiefer gelegene Hirnregionen und lösen die unangenehmen Empfindungen aus.

 

Klein: Nun gibt es Menschen, die Schmerzen im Gegenteil als lustvoll erleben. Zwei, nach anderen Schätzungen auch bis zu sechs Millionen Deutsche erfreuen sich mehr oder weniger regelmäßig an masochistischen Spielen.

 

Zieglgänsberger: Es ist nicht Schmerz, was diese Menschen empfinden. Sie finden ihre Praktiken einfach nur aufregend. Das sehen Sie schon bei gewöhnlichem Sex. Neulich fanden Freunde von mir, als sie von einer Abendeinladung heimkamen, ihre Kinder weinend auf dem Sofa. Die Kleinen hatten sich einen Softporno angesehen, den die Eltern im Schrank hatten. „Die waren nackt, und der Mann hat der Frau so weh getan“, erzählten die Kinder. Die Eltern wussten sich nicht anders zu helfen, als sich den Film mit ihrem Nachwuchs noch einmal anzusehen. Die Szene, die die Kinder so erschreckt hatte, zeigte eine ganz normale Missionarsstellung. Aber tatsächlich war das Gesicht der Frau so schmerzverzerrt, als würde sie furchtbar leiden. Die Kinder haben das richtig interpretiert. Nur wir bemerken es nicht.

 

Klein: Weil die Erregung stärker ist als der Schmerz?

 

Zieglgänsberger: Vor allem deswegen, weil wir die Situation kontrollieren können. Selbst bei den wildesten masochistischen Spielen brauchen Sie ja nur ein Codewort zu rufen, und der Spuk ist beendet. Da fehlt die Angst, die den Schmerz erst so unerträglich macht.

 

Klein: Schmerz ist Ohnmacht.

 

Zieglgänsberger: Erst das macht ihn qualvoll. Es liegt daran, dass die Schmerzinformation eben zweigeteilt ist. Beim Sex würden Sie feststellen, dass die Regionen für das „Wo“ sehr wohl ansprechen auf einen übermäßigen Druck, vielleicht auch auf eine leichte Gewebeverletzung. Weil aber die Situation offenkundig harmlos ist, geben die Zentren für die unangenehmen Emotionen kaum Signale. Sonst würden wir es ja auch nicht immer wieder machen.

 

Klein: Sie haben einmal erklärt, die gefährlichen Schmerzen seien nicht die starken, sondern die schwachen.

 

Zieglgänsberger: Auf die Schmerzen durch eine akute Verletzung ist der Körper eingerichtet. Opioide werden ausgeschüttet, schlimmstenfalls fallen Sie in Ohnmacht. Aber so ein nörgelnder, wiederkehrender Rückenschmerz etwa, immer klein, klein … der treibt Menschen zur Verzweiflung. Den ganzen Tag sind sie in Hab-Acht-Stellung, ob er wiederkommt. Allmählich bekommen sie Angst. Und dann passiert etwas Fatales. Sie werden für den Schmerz immer empfindlicher, denn ihr Nervensystem beginnt sich zu verändern. Werden die Neuronen nämlich wieder und wieder gereizt, verstärken sie die ankommenden Signale immer mehr. So lernt das Gehirn – durch Wiederholung. In diesem Fall lernt es unglücklicherweise den Schmerz. So breitet sich die anfangs kleine Empfindung immer mehr aus. Am Ende bestimmt der Schmerz ihr ganzes Leben.

 

Klein: Und der Rücken? Was fehlt dem Rücken?

 

Zieglgänsberger: Meistens gar nichts. Der Schmerz selbst ist die Krankheit. Vielleicht hatten Sie irgendwann einmal eine Muskelverspannung. So harmlos beginnen Schmerzkarrieren. Das liegt nicht zuletzt an Ärzten, die Angst machen. Weil sie es auch nicht genau wissen, stellen sie Diagnosen wie: „Na ja, Ihr Rücken, der Stärkste ist er nicht. Auch wenn Sie jetzt noch keine ernsten Probleme haben, dann wohl in 20 Jahren.“ Aus seiner Furcht beginnt der Patient jedes kleine Ziehen im Rücken zu beachten. So programmiert er sich auf den Schmerz. Und weil er meint, sich jetzt körperlich schonen zu müssen, schwächen sich seine Muskeln und verspannen sich bei nächster Gelegenheit erst recht.

 

Klein: Es gibt sogar einen Namen für diesen Prozess: iatrogene, das heißt arztgemachte, Chronifizierung.

 

Zieglgänsberger: Das grenzt schon wirklich gelegentlich an Körperverletzung.

 

Klein: Die moderne Medizin fördert solche Entwicklungen. Ärzte sehen dank Ultraschall, Computertomografie und Gentests heute Abnormitäten, die ihnen bisher völlig verborgen waren. Sollen sie darüber schweigen?

 

Zieglgänsberger: Jedenfalls sollten wir Ärzte unsere Zunge hüten – vor allem, wenn wir eigentlich gesunde Menschen vor uns haben. Sprache ist das schärfste aller Schwerter. Darum bin ich immer sehr vorsichtig dabei, einen Patienten aufzuklären.

 

Klein: Die dank Internet aufgeklärten Patienten erstellen sich doch längst ihre Diagnosen selbst. Natürlich wird mir mulmig, wenn ich lese, dass meinem schmerzenden Knie ein Knocheninfarkt drohen könnte. Aber wollen Sie aus der Medizin wieder eine Geheimwissenschaft machen? Mir scheint es vielmehr darauf anzukommen, dass wir mit solchem Wissen umzugehen lernen.

 

Zieglgänsberger: Gerade deswegen, weil sich die Patienten so gut informieren können, sollten wir Ärzte nicht herumspekulieren. Unsere Aufgabe ist es, Hoffnung zu machen. Im Übrigen ist es angezeigt, möglichst frühzeitig auch starke Schmerzmittel zu geben, damit der Lernvorgang gar nicht erst in Gang kommen kann.

 

Klein: Was tun Sie, wenn der Schmerz erst einmal chronisch geworden ist?

 

Zieglgänsberger: Was Menschen gelernt haben, können sie auch wieder verlernen. Erst einmal müssen wir den Schmerz abschalten. Dazu brauchen sie meistens ein Medikament. Doch das ist nur eine Krücke. Da haben wir in der Vergangenheit Riesenfehler gemacht. Sobald wir die Patienten schmerzfrei hatten, ließen wir sie häufig allein. Aber wenn wir die Programmierung ihres Nervensystems auf den Schmerz nicht rückgängig machen, kommen die Qualen wieder. Leider hat das Gehirn keine Löschtaste.

 

Klein: Eine alte, schlechte Erfahrung werden wir nur los, wenn wir sie im Gedächtnis mit einer neuen, besseren überschreiben.

 

Zieglgänsberger: Die Patienten ziehen sich mit ihren Schmerzen immer weiter aus dem Leben zurück. Wenn ich als Schmerzpatient vorher Opern liebte, wird Tristan und Isolde“ nun eine Qual: Bis das Stück endlich mit dem Liebestod der beiden endet, sehe ich mich schon dreimal an meinen Schmerzen gestorben. Fortan ist Oper negativ besetzt. Da hilft es nur, wieder zu erleben, wie schön Wagners Musik sein kann. In dem Maß, in dem die Patienten ihre Lebensfreude wiederentdecken, verlieren sie ihre Angst und hören auf, sich wieder und wieder mir ihrem Leid zu beschäftigen. Zu viel Schonung bringt gar nichts. Bauen Sie lieber ihre Genussfähigkeit wieder auf. Eine gute Schmerztherapie lässt sich auf eine flapsige Formel bringen: Tango statt Fango.

 

Klein: Um dem chronischen Körperschmerz beizukommen, brauchen Sie eine Art Psychotherapie.

 

Zieglgänsberger: Ja. Vor allem kommt es darauf an, Angst vor dem Schmerz zu überwinden. Das schaffen Sie nicht allein mit Medikamenten.

 

Klein: Umgekehrt gilt vieles, was wir inzwischen über den körperlichen Schmerz wissen, für Seelenqualen ebenso. Das Gehirn macht nämlich gar keinen Unterschied: Wenn wir unter Liebeskummer leiden, uns eine Zurückweisung oder auch nur ein Geldverlust grämt, werden im Kopf dieselben Schaltungen wie bei Körperschmerzen aktiv. „Du hast mir mit deinen Worten sehr weh getan“, sagen wir dann. Manchmal ist unsere Alltagssprache beeindruckend genau.

 

Zieglgänsberger: Viel genauer jedenfalls als unsere traditionelle Philosophie, die zwischen körperlichen und seelischen Phänomenen noch immer einen fundamentalen Unterschied sieht. Aber wenn ich in die Hände klatsche, macht dann meine Linke oder meine Rechte den Ton? Mit den Schmerzen des Körpers und der Seele ist es genauso. Auch an psychischen Leiden können Sie zugrunde gehen.

 

Klein: In unserer Gesellschaft wird das bislang anders gesehen. Wenn Sie einem Kind eine runterhauen, ist das Körperverletzung. Drohungen über Liebesentzug hingegen dürfen Sie so drastisch aussprechen, wie Sie wollen. Und im Berufsleben der Erwachsenen gehört es fast schon dazu, dass Sie die Techniken des Mobbings beherrschen.

 

Zieglgänsberger: Die Ohnmacht ist auch hier das eigentliche Problem. Das Kind leidet ja viel mehr unter dem psychischen Schmerz als darunter, dass die Backe wehtut. Es fühlt sich den Eltern ausgeliefert — wie ein Mobbingopfer seinen Kollegen. Das erst macht die Erfahrung so unerträglich.

 

Klein: Was uns vor der Grausamkeit der Mitmenschen ein Stück weit schützt, ist deren Einfühlungsvermögen – die Empathie. Wenn wir die Schmerzen von anderen mitansehen müssen, reagiert unser Gehirn darauf genau so, als hätte uns selbst etwas oder jemand verletzt.

 

Zieglgänsberger: In meinen Vorträgen zeige ich manchmal einen kleinen Film. Darauf sehen Sie, wie sich der Tennisprofi Michael Stich bei einem Ausfallschritt die Außenbänder reißt. Der Fuß knickt um, bis die Sohle nach oben zeigt…

 

Klein: Aiiiie!

 

Zieglgänsberger: Sehen Sie, auch Sie leiden schon mit, obwohl ich Ihnen nur davon erzähle. Dabei steht Ihnen Herr Stich vermutlich nicht sonderlich nahe.

 

Klein: Dass wir uns die Pein selbst eines Fremden so direkt zu eigen machen, läuft unserem gewohnten Menschenbild völlig entgegen. Den Menschen im Naturzustand stellen wir uns üblicherweise ja als ein Wesen ohne Skrupel vor, das nur an sein eigenes Wohl denkt. Dass wir einander nicht die Köpfe einschlagen, gilt allein als ein Verdienst von Kultur und Erziehung. Aber wie die neuen Befunde der Hirnforschung zeigen, haben wir sehr wohl eine angeborene Gabe zum Mitleid.

 

Zieglgänsberger: Die Menschen sind alles andere als Altruisten. Gerade darum brauchen wir diese Fähigkeit, den Schmerz und überhaupt die Gestimmtheit eines anderen zu fühlen. Ohne Empathie würde unser Zusammenleben wahrscheinlich gar nicht funktionieren.

 

Klein: Wie ertragen Sie es als Arzt denn, die quälenden Schmerzen Ihrer Patienten mitzuerleben?

 

Zieglgänsberger: Das ist eine Gratwanderung. Sie müssen sich ein Stück weit in den Patienten hineinversetzen können, sonst nimmt der sie als Arzt gar nicht an. Andererseits brauchen Sie eine professionelle Distanz, sonst gehen Sie zugrunde. Was hilft, ist, dass der Patient Sie liebt, wenn Sie ihm den Schmerz nehmen. Das wusste schon der antike Arzt Galen: „Es ist göttlich, den Schmerz zu lindern.“

 

Klein: Wie sind Sie dazu gekommen, sich ausgerechnet mit dem Schmerz zu beschäftigen?

 

Zieglgänsberger: Ich wollte die Signalverarbeitung im Nervensystem verstehen. Schmerz war einfach ein gutes Beispiel.

 

Klein: So abstrakt?

 

Zieglgänsberger: Als junger Forscher sah ich es so. Erst mit der Zeit habe ich gelernt, wie viel diese Dinge zu tun haben mit dem ganz alltäglichen Leben.

 

Klein: Ihr anderes großes Thema ist die Sucht.

 

Zieglgänsberger: Schmerz und Sucht hängen sehr eng miteinander zusammen. Beide sind Lernvorgänge auf Abwegen. Beim chronischen Schmerz lernt das Gehirn immer stärkere Empfindung auszulösen, die dem Organismus gar nichts mehr nützen. Das süchtige Gehirn hat sich darauf programmiert, dass es immer größere Mengen der Droge braucht, um noch halbwegs zu funktionieren. Beide Prozesse beruhen auf vergleichbaren Umbauten im Geflecht der Neuronen. Und beide sind echte Krankheiten – auch wenn viele das noch immer nicht wahrhaben wollen.

 

Klein: Die Hirnforschung hat unser Bild vom Menschen so schnell verändert, dass es vielen Zeitgenossen schwer fällt, zu folgen. Sie wehren sich dagegen, ihre persönlichsten Stimmungen einfach als einen anderen Namen für sehr komplizierte physikalische Veränderungen in ihren Köpfen anzusehen.

 

Zieglgänsberger: Nicht nur die Philosophie, sondern erst recht unsere Alltagskultur trennt ja noch immer zwischen Körper und Seele. Dabei wissen wir heute, dass ein Großteil der Depressionen zum Beispiel keine logische Antwort auf eine Lebenssituation, sondern Stoffelwechselstörungen sind. Wir entwickeln derzeit wirklich so etwas wie eine molekulare Psychologie. Die Schwierigkeiten, die viele damit haben, sehe ich mehr von ihrer praktischen Seite: Wenn ich einen Patienten davon überzeugen will, ein Medikament zu nehmen, muss ich auf seine Befindlichkeit Rücksicht nehmen. Ich sage ihm, dass ich seine Verstimmung gut verstehe, unter ähnlichen Umständen vielleicht genauso reagieren würde wie er. Um aus dem Tal der Tränen zu kommen, empfehle ich ihm ein Antidepressivum als chemische Krücke. Die soll er wegschmeißen, sobald er sich wieder stabilisiert hat.

 

Klein: Gerade wenn ich unter starken Schmerzen leide, fällt es mir schwer, meinen Körper und mein Erleben als Einheit zu begreifen. Da erscheint doch der eigene Leib vielmehr als Gegenspieler meiner Person – was auch immer das ist. Er ist mein Feind, ich will ihn loswerden.

 

Zieglgänsberger: Aber auch das spielt sich in Ihrem Gehirn ab. Da ist Ihr Körper wie auf einer Landkarte wiedergegeben. Und wenn das Knie Ihnen immer wieder weh tut, bekommen mit der Zeit mehr und mehr Nervenzellen diese Information. Die Karte des Körpers verändert sich also: Das schmerzende Glied wird immer größer darauf.

 

Klein: Von den Veränderungen einzelner Hirnzellen bis hin zu den Empfindungen und dem Verhalten eines Menschen ist es ein weiter Weg. Wie überbrücken Sie diese Kluft?

 

Zieglgänsberger: Wenn Sie mich als Wissenschaftler fragen: Wir arbeiten gerade an Methoden, um das Zusammenwirken immer größerer Neuronenverbände zu untersuchen. So hoffen wir besser zu verstehen, wie sich Vorgänge zwischen den Zellen Schritt für Schritt in menschliche Regungen übersetzen. Wenn Sie mich als Arzt fragen: Bis vor wenigen Jahren bin ich neben meiner Laborarbeit häufig nachts und am Wochenende als Notarzt gefahren. Ich brauchte das Gefühl, etwas unmittelbar Sinnvolles zu tun. Da kam ich mit Schmerz und Sucht in Extremsituationen in Berührung.

 

Klein: Was sagte der Institutsdirektor zu Ihren nächtlichen Touren?

 

Zieglgänsberger: Wir hatten eine Abmachung: Das bleibt unter uns. Selbst wenn ich in unsere eigene Klinik einwies, dachten die Kollegen vermutlich immer, es sei mein Bruder. Der ist niedergelassener Arzt. Heute nützt mir diese Erfahrung. Für die Ärzte bin ich einer der Ihren, kein abgehobener Forscher – ich spreche ihre Sprache.

 

Klein: Mindestens 2000 Menschen in Deutschland bringen sich Jahr für Jahr um, weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen. Meinen Sie, dass eine Therapie ihnen allen helfen kann?

 

Zieglgänsberger: Wahrscheinlich sind es mehr Opfer: Sie müssen all jene hinzurechnen, die von einer unheilbaren Krankheit erlöst werden wollen. In Wirklichkeit wollen sie nur ihre Schmerzen loswerden. Wir wissen, dass eine gute Schmerzbehandlung den Todeswunsch dramatisch vermindert. Mit den neuen Therapien können wir heute Fälle angehen, die bislang als hoffnungslos galten. Das ist das Programm, mit dem ich angetreten bin: Wir müssen alles versuchen, um das Leiden zu mindern und die Freude am Leben zu erhalten.

 

Klein: Alles? Der Gedanke, dass Schmerz einen Sinn hat und wir ihn aushalten sollten, steckt tief in unseren Köpfen.

 

Zieglgänsberger: Andauernder Schmerz hat keinen Sinn. Diese mystischen Ideen, dass Leiden die Menschen veredelt, sollten wir schleunigst vergessen. Das ist eine antiquierte Vorstellung im Christentum. Auch der Papst hat sich für die Schmerztherapie erklärt. Niemand soll Schmerzen ertragen.

 

Klein: Kann es eine Welt ohne Schmerz geben?

 

Zieglgänsberger: Schmerz wird immer ein Signal – wenn auch ein extremes – dafür sein, dass wir leben.

 

 

 

Stefan Klein ist promovierter Biophysiker. Der 42-Jährige hat die Bestseller „Die Glücksformel“ und „Zeit. Der Stoff, aus dem das Leben ist“ geschrieben. Klein führt für das ZEITmagazin regelmäßig Gespräche mit Wissenschaftlern: Über die großen Fragen, auf die wir keine letzten Antworten haben.

Quelle: www.DieZeit.de

 

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